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Von einer Reise in den Fernen Osten Russlands
Auf der Suche nach dem Tiger
Tiger haben mich schon immer fasziniert. Sie sind geheimnisvoll, anmutig, groß, majestätisch. Russland dagegen eher nicht und ich hatte nie vor, es zu besuchen. Aber wie es nun mal so ist, gibt es im größten Land der Erde auch die größten Raubkatzen unserer Zeit. Noch. Ich lese von zwei Menschen, die von einem Tiger angefallen und getötet wurden. Ein schrecklicher, zugleich aber auf unerklärliche Art und Weise faszinierender Gedanke. Die Macht der Natur verkörpert durch das elegante Streifenkleid eines perfekten Jägers. Wie muss es sein, in einem Land zu leben, in dem noch solch ursprüngliche Gefahren herrschen? Was ist es für ein Gefühl, dort einsam durch die Wälder zu streifen? Dieser Gedanke lässt mich nicht mehr los. Ich will es herausfinden.
Wladiwostok
In den Rucksack kommt mein Zelt, Schlafsack, meine Angel, die Kameraausrüstung, Pfefferspray und Nahrung für gute drei Wochen. Nahrung heißt Spaghetti, Reis und Päckchensuppen. Nach zwölf Stunden Flug komme ich in Wladiwostok an, der Hauptstadt von Russlands südöstlichster Provinz Primorje. Zuerst wechsle ich etwas Geld – für einen Euro bekommt man 40 Rubel –, dann besorge ich mir ein Busticket in einem Gebäude, das aus vier Betonwänden und Dach besteht. Das war dann aber auch alles. Kein Putz, fließendes Wasser, Klo oder sonstige Einrichtung. Der Strom kommt vom Aggregat. Obwohl man hier wie in Deutschland auf der rechten Straßenseite fährt, haben die Autos Rechtslenkung. Nach 40 Minuten über eine löchrige Straße hält der Bus im Zentrum. Wladiwostok ist eine recht schöne Stadt: Ältere Gebäude, Museen, die Endhaltestelle der Transsibirischen Eisenbahn und ein historischer Hafen, der noch immer wichtige militärische Bedeutung hat. Während der Zeit des Kalten Kriegs war die Stadt deswegen für Ausländer und eine Zeit lang sogar für Staatsbürger gesperrt. Auffallend sind viele große, hübsche, knapp gekleidete Frauen in hohen Absätzen in Begleitung von meist älteren (neu)reichen Russen.
Lange bleibe ich nicht. Im Voksal [Bahnhof] kaufe ich mir ein Ticket für die Transsibirische Eisenbahn. Die Frau am Schalter ist sehr freundlich und so habe ich keine Probleme. Englisch spricht hier allerdings niemand. Und mein russischer Wortschatz besteht optimistisch geschätzt aus 15 Wörtern. Um 21 Uhr verlässt der Zug den Bahnhof Richtung Norden. Nach acht Stunden Fahrt, 500 zurückgelegten Kilometern und einem einigermaßen erholsamen Schlaf steige ich in Lutschegorsk aus. Es ist eine Arbeiterstadt mit 21000 Einwohnern, welche das größte Kohlekraftwerk in der Region beherbergt. Was ich sehe, macht nicht gerade Lust auf mehr: Plattenbauten, Beton, Schotterstraßen, Müll, wo man hinsieht. Ich habe das Gefühl, die Stadt wurde vor Kurzem von einer Naturkatastrophe heimgesucht und so bin ich froh, dass ich sie noch in der Morgendämmerung hinter mir lasse.
Kohlekraftwerk
Zu Fuß geht es entlang des Stausees, der von einem Nebenfluss des Bikin gespeist wird. Der Bikin ist ein Fluss, der im Sichote-Alin-Gebirge im Osten entspringt und in den Ussuri mündet. Der Ussuri hat dieser Landschaft ihren Namen gegeben: Ussuri-Taiga. Hier treffen nördliche und südliche Floren- und Faunenelemente aufeinander, was das Land unheimlich vielfältig macht. Elch und Vielfraß teilen sich den Lebensraum mit Buntmarder Moschustier. Das Bikintal ist eine der letzten großen unberührten Naturlandschaften der nördlichen Hemisphäre – und mein Ziel. Am Ende des Sees hört auch die Straße auf. Ich wusste das, hab es mir aber trotzdem leichter vorgestellt. Birken und Pappeln stehen locker, aber der Unterwuchs aus Bambusgras ist meist zwei Meter hoch. So kämpfe ich mir meinen Weg in Richtung Bikin und kann dabei keine 20m weit sehen. Zum Glück habe ich einen Kompass dabei, aber ein mulmiges Gefühl bleibt. Schließlich gibt es hier neben Tigern auch Braunbären, Asiatische Schwarzbären und Wölfe.
Das war jedoch nicht immer so. Um 1939 waren gerade noch zwischen 20 und 30 Amurtiger im Fernen Osten vorhanden, wobei im Bikintal kein Einziger mehr umherstreifte. Jahrzehnte lange Verfolgung hatte die Art an den Rand der Ausrottung gebracht. Die Raubkatze wurde vor allem für die Herstellung traditioneller Medizin für die Chinesen gejagt aber auch des Fells wegen oder einfach als Sport. Während des Zweiten Weltkriegs konnte sich der Bestand wieder etwas erholen und wurde 1947 unter Schutz gestellt. Im Lauf der Zeit wurden einige Zapovedniki eingerichtet, streng überwachte Naturparks, in denen außer für ausgewählte Forscher und Aufseher absolutes Betretungsverbot herrscht. Seit den 1990er Jahren bis heute schwankt der Bestand zwischen 400 und 500 Tieren. Nach einigen anstrengenden Stunden taucht zuerst die Straße auf, die ins Bikintal führt und dann der Fluss selbst. Erschöpft baue ich mein kleines Zelt am Ufer, auf in dem ich meine erste Nacht in der Wildnis verbringen werde.
Am Fluss
Nach einer kühlen Nacht stehe ich früh auf und mache Feuer, um etwas warm zu werden. Zwei Fischer kommen und bauen ihr Schlauchboot auf, mit dem sie nach kurzer Zeit im dichten Morgennebel des Bikin verschwinden. Nach einem Frühstückstee geht es weiter die Schotterpiste entlang. Diese Straße ist langfristig gesehen die größte Gefahr für den Tiger. Sie öffnet die Taiga für (oft illegale) Forstwirtschaft und Bergbau. Nicht nur der Lebensraum wird hierdurch immer knapper, auch Wilderer haben leichten Zugang. Ich bin nicht alleine unterwegs. Es kommt bestimmt alle 15 Minuten ein Auto vorbei. Die meisten davon kommen aus Verchny Peraval, einem Holzfäller-Dorf am Bikin von dem ich noch ca. 15km entfernt bin. Andere sind übers Wochenende von Lutschegorsk gekommen, um die Natur zu genießen und um zu fischen, was hier so etwas wie ein Nationalsport ist. Kein Wunder, kaum eine Stelle am Ufer, die nicht bezaubert. Das Wasser des Flusses ist glasklar, da in den vier Dörfchen, die flussaufwärts liegen keinerlei Industrie (außer der Forstwirtschaft) existiert, die ihre Abwässer einleiten könnte. Deshalb gibt es viele ausgezeichnete Speisefische, unter anderem Äschen, Forellen, Lachse und Saiblinge.
 
Nachmittags schmerzt mein Rücken so sehr, dass ich beschließe, die letzten Kilometer bis Verchny Peraval zu trampen. Prompt hält ein Fischer in seinem japanischen Kleinlaster an, dem ich einige Zeit vorher am Bikin begegnet bin. Ich spreche den Ortsnamen komplett falsch aus, aber der Mann versteht – so viele Alternativen gibt es ja nicht – und zeigt nach hinten auf die Ladefläche. Dort geselle ich mich zu seinem zwölfjährigen Sohn, der Kette raucht und mir stolz die gefangenen Fische präsentiert. Der Weg bis ins Dorf ist weiter als gedacht und so bin froh schon nachmittags anzukommen. Hier spüre ich zum ersten Mal richtig, dass das nicht Europa ist, wo ich gerade bin. Es ist, als sei die Zeit vor 200 Jahren stehen geblieben. Durch meine westlich geprägten Augen sehen die Häuser klein und heruntergekommen aus. Kaum eines ist gestrichen. Überall laufen Hühner, Gänse, Ziegen, Rinder und anderes Viehzeug durchs Dorf. Nur die Autos und einzelne Satellitenschüsseln lassen erahnen, dass man sich hier im einundzwanzigsten Jahrhudert befindet. Am Flussufer finde ich eine malerische Stelle, an der ich mein Lager aufschlage. Am Abend besucht mich der Junge mit drei Freundinnen. Eine kann ein paar Brocken Englisch. Sie erzählt, dass hier eigentlich alle Englisch in der Schule lernen, aber dass es für sie sehr schwierig ist, weil sie ja auch noch das Alphabet neu lernen müssen. Es gibt zu meiner großen Überraschung Internet und sogar Handyempfang. Sie ist bei Facebook. Und ein Bus kommt täglich von Lutschegorsk. Hier ist allerdings Endstation. Sowohl für den Bus, als auch für den Handy-Empfang. Nachts dröhnen ein paar Mal Schüsse in der Dunkelheit und frage mich, ob das wohl Wilderer waren…
Am nächsten Morgen geht es weiter. Nach zehn Kilometern auf der Hauptstraße und drei Kilometern entlang eines Trampelpfades durch die dichte Taiga bin ich erneut am Bikin, dieses Mal fernab jeglicher Zivilisation und völlig alleine. Die Vegetation hier ist anders als bisher – sie ist unberührt. Es stehen Dutzende Baumarten nebeneinander, von denen die meisten in Europa nicht vorkommen. Ich erkenne Birke, Erle, Eiche, Walnuss, Fichte, Koreatanne, Pappel und Weide. Überall ist Totholz, was einen unglaublichen Insektenreichtum nach sich zieht. Schlupfwespen bohren mit ihren langen Legestacheln in das modrige Holz, während ein großer Bockkäfer Pflanzensäfte leckt. Marienkäfer sind eine allgegenwärtige Erscheinung, genauso wie – zu meinem Frust – Stechmücken und Lausfliegen. Angezogen von dieser Vielfalt erscheinen die Spechte gleich zu siebt, um sich am Totholz zu bedienen. Wenn man am Ufer entlang geht, muss man aufpassen, wohin man tritt, weil etliche Frösche vor einem fliehen. Dabei habe ich nicht nur Frösche erschreckt, sondern auch eine giftige Halysotter auf der Jagd. Sie gehört zur Ordnung der Grubenottern, denen gemein ist, dass sie Wärme über ihr Grubenorgan detektieren können. Es ist allerdings noch ein Jungtier und so muss ich mir keine Sorgen machen. Abends kommt ein Marderhund am Ufer entlang getrottet. Dieses Tier, das aussieht wie eine Mischung aus Hund und Waschbär kommt inzwischen auch bei uns in Deutschland vor – eingeschleppt als Pelztier – doch hier ist sein angestammter Lebensraum. Am anderen Tag lässt sich eine Amurnatter blicken, von der sich ein Streifenhörnchen aufschrecken lässt. Im Uferschlamm verraten die Spuren eine Amurkatze (eine kleine Wildkatze), aber auch Rehe und anderes Rotwild müssen hier gewesen sein. Die Tage verbringe ich mit fischen und kleinen Erkundungstouren in die Taiga. Angelockt durch Fischköpfe am Flussufer besucht mich am Abend ein Mink (eine kleine Marderart, die auf Fließgewässer angewiesen ist) und der größte Nachtvogel unserer Erde gibt sich die Ehre: der Riesenfischuhu. Ein mächtiger Anblick. Umso erstaunlicher, dass er sich nur von Fisch ernährt. Angefangen von den Pflanzen und kleinen Insekten zieht sich diese Fülle des Lebens die Pyramide nach oben, an deren Spitze unangefochten der Amurtiger steht. Doch so groß die Artenfülle hier auch sein mag, so haben es die Tiger hier nicht leicht. Aufgrund des kalten Klimas kommen die Beutetiere, im Wesentlichen Rothirsche und Wildschweine, nur in relativ geringer Dichte vor. Dies führt zu unglaublich großen Streifgebieten der Tiger, größer als in allen anderen Teilen Asiens, wo die Raubkatzen noch vorkommen. Ausgewachsene Männchen haben oft Territorien von 1000 qkm Größe. Diese werden heftig gegen andere Männchen verteidigt und überschneiden sich oft mit den etwas kleineren Streifgebieten der Weibchen.
Nach einigen Tagen in der Einsamkeit zieht es mich tiefer in die Taiga. Allerdings muss ich auf der Straße bleiben, durch den Wald schaffe ich es mit dem schweren Gepäck einfach nicht. Hier werden schon die Ausläufer des Sichote-Alin-Gebirges bemerkbar. Es geht auf und ab. Nach 15 Kilometern lasse ich mich erneut mitnehmen. Ein kleiner Toyota-Bus hält an. Ich steige zu fünf Russen ein, die alle munter drauf losreden. Ich erkläre, dass ich kein Wort verstehe, aber das interessiert sie wenig und so sitze ich einfach da und nicke höfflich. Sie reichen mir Brot und Wurst und natürlich Wodka. Nach einer guten Stunde Fahrt kommen wir in Yasenyova an. Es stellt sich heraus, dass die Russen auf dem Weg zum Fischen sind und sich hier mit Lebensmitteln eindecken. 5km südlich liegt Krasny Jar, ein Dorf in dem die letzten Udege – die Ureinwohner des Bikintals – leben. Im Norden liegt Sobolonye, mein Ziel. Nach diesem kleinen Holzfällerdorf gibt es bis zum Meer keine Siedlungen mehr. Ich habe Glück, denn die fünf Fischer sind auf dem Weg dorthin. So kommt es, dass wir kurze Zeit später in dem 400-Seelen-Dorf ankommen, das erst 1972 von einem staatlichen Forstbetrieb gegründet wurde. Für die Menschen damals hat der Kommunismus funktioniert. Es gab Arbeit, eine Schule, eine Klinik, einen Lebensmittelladen und sogar eine Bibliothek. Doch Anfang der 1990er Jahre erreichte die Perestroika auch Sobolonye. Zuerst verschwand der Forstbetrieb. Auf einen Schlag waren alle Menschen im Dorf ohne Arbeit. Doch die meisten blieben und ernährten sich von dem, was der Wald hergab. Klinik und Bibliothek waren bald Vergangenheit.
Wenn man hier ankommt, meint man, dass es sich um eine verlassene Siedlung handelt. Wir machen an dem Haus eines Freundes der Männer halt. Sie unterhalten sich kurz, dann geht einer in den Garten, in dem überall Marihuana wächst, und nimmt sich ein paar Hände voll mit. Sie steigen wieder ein und bedeuten mir, dass es weitergeht. Erst als wir schon wieder ein paar Kilometer außerhalb Solobonye sind, fällt mir auf, dass ich eigentlich gar nicht so weit wollte. Sie sagen: "Ribalka" [Fischen]. Ich denke mir, heut kann ich sowieso nicht mehr zurück, also was soll's. Aber als wir nach eineinhalb Stunden immer noch auf einer Straße fahren, die mehr aus Schlaglöchern als Straße besteht, bekomme ich ein ziemlich ungutes Gefühl. Ich habe bestimmt schon dümmere Sachen gemacht, aber im Moment will mir einfach nichts einfallen. Auf meiner Karte hat der Weg schon eine ganze Weile aufgehört. Nach zwei Stunden halten wir endlich. Alles ausladen. Los geht's durch die Taiga ohne erkennbaren Pfad. Nach einer weiteren Stunde laufen – es ist bereits dunkel – halten wir endlich mitten im Wald. Wir machen ein Feuer, essen Brot und Wurst und trinken, wie könnte es anders sein, Wodka. Slava Ruschky, der Fahrer, erwähnt, dass nicht weit von hier vor einigen Jahren ein Mann namens Wladimir Markow von einem Tiger getötet wurde. Ich kenne die Geschichte schon, es gibt sogar ein Buch darüber. Er sagt, er selbst habe schon einmal versucht einen Tiger zu wildern, ihn aber verfehlt. Die anderen haben noch nie einen gesehen. Zumindest glaube ich, dass sie das gesagt haben.
Dorf
Nachdem man gesehen hat wie manche Menschen hier leben müssen, ihre Verzweiflung im Angesicht der absoluten Perspektivlosigkeit, kann man verstehen, weshalb manche Männer versuchen einen Tiger zu wildern. Oft sind es Lkw-Fahrer, die wenn sie zufällig eine der Großkatzen an der Straße sehen, halten und sie erlegen. Oder aber man folgt im Winter der Spur im Schnee, bis man auf sein Opfer trifft. Doch wer das Opfer ist, entscheidet sich oft daran, ob der Schuss tödlich war oder nicht. Wenn nicht verteidigt sich der Tiger meist, was der Wilderer normalerweise nicht überlebt. Wenn Menschen durch Tiger sterben, ist es fast immer darauf zurückzuführen, dass sie auf ihn geschossen haben, sei es um ihren Hund zu verteidigen oder aus Angst. Wie auch immer, seit sich die Grenze zu China geöffnet hat, ist der illegale Handel quasi von null sprunghaft angestiegen und stellt – jedenfalls kurzfristig – eine der größten Bedrohungen für den Herrscher der Wälder dar.
Als ich aus meinen Gedanken erwache, ist es schon spät geworden. Die Fischer wechseln einfach von Sitzen zu liegen und schlafen ein. Ich baue lieber mein Zelt auf und schlafe immer noch recht beunruhigt ein.
Am Morgen legen wir den letzten Teil unseres Wegs zurück und erreichen nach einer halben Stunde einen Altwasserarm des Bikin. Dort lassen wir alles zurück, außer der Angelausrüstung. Sie haben ein Schlauchboot dabei mit dem man über den Altwasserarm zum Bikin gelangt und verteilen sich dann zum Fischen. Mit ihren langen Gummistiefeln stehen sie im Fluss und ziehen eine Äsche nach der anderen heraus. Gegen Mittag sind wir nur noch zu dritt. Slava sagt, er will mich auf die andere Seite bringen, damit ich an den Hauptfluss gelange. Dort würde ich mit meinen Blinkern erfolgreicher sein als an dem flachen Stück. Also gut. Drüben.
Am Fluss
Lange Zeit sitze ich einfach am Ufer und genieße die herrlich wilde Landschaft als mir plötzlich auffällt, dass ich völlig alleine bin. Es ist schon 4 Uhr. In meinem Kopf rumort es. All mein Zeug ist irgendwo in der Taiga. Was, wenn sie mich ausrauben wollen? Wenn sie mich hier zurücklassen? Ich bekomme Panik. Ich möchte nicht mehr auf der Insel warten! Also Hosen runter, Stiefel ausgezogen und durchs kalte Nass auf die andere Seite des Bikin. Geschafft. Angezogen. Weiter. Zuerst verlaufe ich mich, sammle mich aber wieder und kehre zum Ausgangspunkt zurück. Da ist die Stelle, an der wir am Morgen mit dem Boot übergesetzt haben. Kein Boot! Scheiße! Hosen runter, Stiefel aus und durch zwei Altwasserarme durch. Dabei schneide ich mir die Fußsohle auf. Doch dann finde ich den Weg und gelange zur Stelle, wo ich mein Hab und Gut gelassen habe.
Da sitzen drei Mann, ganz gemütlich, und können nicht verstehen, warum ich so aufgeregt bin. Mein Puls beruhigt sich schnell wieder, als ich feststelle, dass alles noch da ist. Anscheinend ist es hier normal, sich über den Tag in der Wildnis zu verteilen und am Abend wieder an den Sammelpunkt zurückzukehren. Hört sich jetzt auch ganz anständig an. Man muss es halt nur wissen und – noch wichtiger – wieder zurückfinden.
Auf jeden Fall hat mir dieses Erlebnis die Laune verdorben, und als die Männer mir eröffnen, sie werden noch drei Tage bleiben, beschließe ich am nächsten Morgen alleine zurückzugehen. Es beginnt kräftig zu regnen, als ich schon im Zelt liege. Die Fischer gehen deshalb in eine kleine Jagdhütte. Ich habe keine Lust das Zelt abzubauen und bleibe deshalb zurück. Die Nacht wird bitterkalt. Das Wasser hat einen Weg ins Zeltinnere gefunden und durchnässt alles. Ein paar Stunden vor Sonnenaufgang lässt der Regen nach, dafür zieht die Kälte an. Als der Morgen endlich da ist und ich aus meinem Zelt krieche ist es schon weiß. Es schneit kräftig. Meine Füße kann ich nicht spüren. Alles zusammengepackt. Los geht's. Ich gehe an der Hütte vorbei und sage "Paka" (tschüss).
Erst läuft alles gut. Der Pfad ist deutlich erkennbar. Richtung Osten, den Altwasserarm entlang. Der Wald ist wie erstarrt. Kein Geräusch außer dem leisen Rieseln des Schnees. Dann muss ich Richtung Norden zur Straße. Es sind nur ca. 4km. Der Pfad ist verschwunden. Also so durch den Wald. Einige Meter von mir flüchtet ein Rothirsch. Es wird immer dichter. Immer dem Kompass nach. Die Zeit vergeht. Keine Straße. Ich bekomme langsam Angst. Bin ich zu weit nach Osten abgekommen? Ich kann nur wenige Meter weit sehen und rufe deshalb manchmal laut, damit ein Tiger weiß, dass ich ein Mensch bin, denn stinken tue ich nach den zwei Wochen wie ein Wildschwein. Es kann doch nicht sein, dass der Weg nicht kommt! Inzwischen liegen mindestens fünf Zentimeter Schnee. Die Angst breitet sich aus. Stimmt etwas mit dem Kompass nicht? Was, wenn ich hier nicht rauskomme? Wenn ich erfriere? Oder der Tiger mich packt? Es hilft alles nichts! Weiter! Nach Nord-West. Bloß den Weg nicht verpassen! Weitere quälende Minuten vergehen. Und plötzlich da, direkt vor mir, keine 10m entfernt, der Weg! Er ist kaum zu erkennen, weil die vielen kleinen Pappeln unter der Schneelast auf ihn hinab hängen. Ein riesen Stein fällt mir vom Herzen. Ich bin zwar komplett durchnässt, aber einfach nur glücklich raus gefunden zu haben. Es geht weiter, zurück in Richtung Sobolonye. Nach 20km, kurz vor dem Dorf, nimmt mich das erste Auto dem ich an diesem Tag begegne mit. Ich sage meine Standartwörtchen auf Russisch: Schsbassiba [Danke], njet ruskje, da, germanica, da, angliskje, da, adin [alleine]. Er fährt bis Jasenova. Ein Stück außerhalb suche ich mir ein gemütliches Plätzchen, mach ein großes Feuer und verbringe den ganzen Abend damit mich und meine Habe zu trocknen. Völlig erschöpft, aber zufrieden schlafe ich ein.
Der letzte Abschnitt führt mich nach Krasny Jar, was übersetzt rotes Ufer bedeutet. Dort siedeln die letzten 700 Udege. Sie sind die Uhreinwohner von Primorje und leben heute noch fast genauso wie vor Hunderten Jahren. Der Wald ist die Grundlage ihrer Existenz. Die meisten der Männer sind Jäger oder Fischer. Einige suchen Ginseng, die Lebenspflanze, welche in China gegen alle möglichen Krankheiten angewandt wird und aufgrund ihrer Seltenheit heute extrem hohe Preise erzielt. Außerdem werden die Zapfen der Koreakiefer gesammelt, deren Nüsse als Delikatesse gelten.
Der Tiger hatte für die Menschen hier schon immer eine besondere Bedeutung. Er galt als heilig und wurde als Herr und Beschützer der Wälder bezeichnet. Amba, so nannten die Udege ihn einst. Heute hat sich dieses Bild, besonders bei jüngeren Generationen, geändert. Selbst hier in mitten der Wildnis gibt es inzwischen Fernsehen und Spielkonsolen. Doch die Kultur ist noch immer sehr lebendig. Die Menschen sind Animisten, das heißt sie glauben an die Natur, die Taiga und all ihre Lebewesen als Schöpfer und Grundlage ihres Lebens. Selbst die Jahre des Kommunismus und der Gleichschaltung konnten dies nicht ändern. Aufgrund dieser Naturverbundenheit gibt es hier auch nur wenige Konflikte zwischen Menschen und Tigern.
 
Der WWF hat hier seinen Stützpunkt für den Schutz der Amurtiger. Er kümmert sich um die Erhaltung der Kultur der Udege, indem die örtliche Schule unterstützt wird. Im Sommer gibt es Ferienlager, in denen die Kinder draußen zelten. Sie lernen mit einem Bogen zu schießen aber auch Volkstänze. Und natürlich wird vermittelt, dass der Tiger Teil des Lebens und der Kultur hier ist. Auch ein Museum wurde errichtet. Ich sehe es mir an und versuche mehr über die Menschen und die Tiger zu erfahren. Natürlich werde ich mal wieder nicht verstanden. Aber die Frau, mit der ich mich zu verständigen versuche, lässt es dabei nicht bewenden, sondern führt mich durch ihr Dorf, zum Bürgermeister, gibt mir etwas zu essen und trinken und geleitet mich schließlich zur Schule. Dort werde ich der Schulleiterin Galine Kanchuga vorgestellt. Sie ist die Erste in Russland, die ausgezeichnet englisch spricht. Sie lädt mich sofort ein, einige Tage bei ihr und ihrem Mann Vasili zu leben. Keine Widerrede. Das Haus sieht aus, wie die meisten anderen, ungestrichen, klein und es wird von einem Hund bewacht. Innen ist es sehr gemütlich. An den Wänden ist ab und zu ein Streifen Tapete, sonst sind sie aus Holz. Es gibt Strom und einen Wasserboiler. Das Wasser dafür muss man aber aus dem Brunnen holen. Die Milch kommt von der Kuh auf der anderen Straßenseite. Auf dem Herd steht natürlich Fischsuppe mit selbst gefangenen Äschen. Im Garten stehen noch Kohl und Kartoffeln. Mais, Kürbisse, Weizen und Johannisbeeren sind schon eingebracht und lagern im Eingang. Ein Bad gibt es nicht im Haus, dafür geht man in einen kleinen Schuppen mit Ofen, der im Garten steht. Ich mache Wasser warm und wasche mich erst mal – vielleicht gar keine schlechte Idee nach über zwei Wochen. Das Plumpsklo steht ebenfalls im Garten.
Gegen 19 Uhr kommt Galine heim. Ihr Mann Vasili ist auf Hirschjagd. Es tut gut, mal wieder jemanden zu verstehen und eine normale Unterhaltung zu führen. Am nächsten Morgen bin ich in der Schule und erzähle im Englischunterricht von meiner Reise und von Deutschland. Insgesamt besuchen 83 Kinder die Schule. Sie werden von 15 Lehrern betreut. Die kleinste Klasse besteht aus zwei Mädchen. Paradiesische Verhältnisse. Abends werde ich auf einen Geburtstag mitgenommen und lerne das traditionelle Essen kennen. Alles kommt aus eigenem Anbau oder aus dem Wald. Ich bin überwältigt von der Gastfreundschaft und lasse mich sogar überzeugen den Hirschpenis zu probieren. Nicht so mein Fall.
Fischer
Vasili nimmt mich zusammen mit seinem Bruder Mischa und zwei anderen auf dem Boot den Bikin hinauf zum Jagen und Fischen. Nach drei Stunden Bootsfahrt sind wir da, mitten in der Wildnis. Auf dem Fluss zu fahren ist wahrlich die schönste Art zu reisen. Kein Rucksack, der drückt, keine Blasen, einfach nur die bunt gefärbte Taiga genießen. Keine Straße führt hierher. Zu essen gibt es selbst gefangenen Lachs und einmal sogar Eichhörnchen. Die sonnigen Herbsttage vergehen viel zu schnell. Schon nach drei Tagen machen wir uns auf den Rückweg.
Zu Hause sprechen Galine und Vasili über das Leben mitten in der Taiga. Ziemlich genau vor zwei Jahren war ein Bär in den Garten eingebrochen. Es war früh morgens und die Nachbarn haben noch geschlafen. Also holte Vasili sein Gewehr, ging raus und erschoss ihn. Das Fell liegt heute noch hinter dem Plumpsklo. Auch die Tiger kommen manchmal bis ins Dorf. Das sind vor allem junge, unerfahrene oder sehr alte Tiere, die im Wald keine Beute machen können. Also holen sie sich ab und zu einen Hund oder ein Pferd. Vasili erzählt von einer Begebenheit vor einigen Jahren, welche die tiefe Verbundenheit der Udege mit ihrer Umwelt demonstriert. Es war Winter. Als Vasili durch Krasny Jar lief fiel ihm auf, dass in einem Garten am Rand des Dorfs zwei tote Hunde übereinander lagen. Er ging zu dem Besitzer der Hunde und fragte, was passiert sei. Die Nacht zuvor war der Tiger im Dorf gewesen. Er hat beide Hunde getötet, doch der Mann bemerkte ihn, ging nach draußen. Da war der Tiger schon weg. Es war ein herber Verlust, die Hunde waren die Jagdhelfer, ohne die es im Winter fast unmöglich war Beute zu machen. Außer sich vor Wut legte der Udege die Hunde so in den Garten, dass er gute Sicht auf sie hatte. Und so wartete er, dass das Raubtier zurückkehrt, um ihn zu erschießen. Aber das passierte nicht. Nach Tagen des Wartens ging der Jäger hinaus in den Wald. Er ging entlang seines gewohnten Jagdpfads. Noch nicht weit gegangen lag da plötzlich mitten auf dem Weg ein Wildschwein. Die Spuren zeigten deutlich, dass ein Tiger es gerissen und hierher geschleppt hatte. Die Anwesenheit der Katze war förmlich spürbar. Er wusste er wird beobachtet. Nach kurzem Überlegen nahm er das Wildschwein und ging heim.
Natürlich kann man sich fragen, ob der Tiger das Schwein wirklich als Wiedergutmachung dort platziert hat. Wusste er, dass er einen Fehler gemacht hat, als er die Hunde tötete? Dass ihm nachgespürt wurde? Oder war das alles nur zufällig? Ich weiß es nicht, aber nachdem ich gesehen habe, wie naturverbunden die Menschen hier leben, glaube ich an die geheimnisvolle Verständigung der beiden Jäger und ihr stilles Übereinkommen.
Es gibt nicht mehr so viele Tiger wie in den letzten Jahren. Erst vor einigen Wochen hat sich wieder ein Großunternehmen die Abholzungsrechte für das mittlere Bikinbecken gesichert, erzählt Galine. Und das, obwohl das gesamte Gebiet eigentlich schon längst zur traditionellen Nutzungszone gehört, die mit Hilfe des WWF eingerichtet wurde. Doch die Firmen zahlen viel Geld an die lokale Regierung. Schmiergeld. Die Udege wurden wie schon so oft zuvor nicht gefragt. Galine sagt, dass Vasili und einige Freunde nächste Woche nach Lutschegorsk fahren, um sich dort zu beschweren.
Abgeholzt wird vorwiegend im Winter. Noch vor einigen Jahren hat ein Konvoi bestehend aus fünf Lastern das Holz abtransportiert. Letzten Winter waren es 38. Die Zukunft sieht düster aus. Bald gibt es hier keine Taiga mehr, keinen Bikin, keine Tiere und keine Udege meint meine Gastgeberin traurig. Der WWF versucht zwar alles in seiner Macht stehende, aber das reicht einfach nicht. Die Mittel fehlen. Es gibt einige staatliche Ranger, die die Jäger in der Gegend kontrollieren sollen, um der Wilderei Einhalt zu gebieten. Doch ihre Stellen sowie Löhne wurden in den letzten Jahren drastisch gekürzt. Für das riesige Bikintal ist derzeit ein einziger Aufseher verantwortlich.
Schon jetzt macht der verstärkte Holzeinschlag sich deutlich spürbar. Durch die Entnahme der Koreakiefern ist der Wildschweinbestand – Lebensgrundlage für Tiger und Udege – in den letzten Jahren stark zurückgegangen, weiß Vasili. Er sagt, es wäre ihm am liebsten, wenn es hier keine Russen und Ausländer geben würde, damit die Udege ohne Zukunftsängste leben könnten. Umso dankbarer bin ich für seine Gastfreundschaft und Bereitschaft mit einem Fremden über die Probleme im Bikintal zu sprechen. Seine Worte lassen mich in meiner letzten Nacht in der Abgeschiedenheit kaum zur Ruhe kommen.
Am Morgen fahre ich mit ihm die 120 km zurück nach Lutschegorsk und trete von dort meine über 40-stündige Heimreise an. Ich frage mich, was die Zukunft den Tieren und Menschen der Ussuri-Taiga wohl bringen wird. Das Traurige ist, dass die Umweltzerstörung und somit der Abwärtstrend der Amur-Tigerpopulation von heute auf morgen gestoppt werden könnte. Wäre die Regierung nicht korrupt und würden Schutzmaßnahmen zur Erhaltung des Lebensraums konsequent durchgesetzt, sowie mehr gut bezahlte Jagdaufseher eingesetzt werden, dann wäre die Tigerpopulation in Russlands Fernem Osten gesichert. Und die Udege. Ich glaube fest daran, dass dies Realität werden kann.
 
Text und Fotos: Martin Mayer
 
 
 


 

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Martin Mayer (22) studiert Biologie. Im Herbst 2011 ist er in den Fernen Osten Russlands aufgebrochen, um eine für ihn völlig fremde Region zu erleben. Er war in einer Gegend unterwegs, wo auch die letzten Amurtiger in freier Wildbahn leben. Der WWF geht davon aus, dass es nur noch 450 bis 500 dieser schützenswerten Tiere gibt. Deren Lebensraum zu sichern, dafür setzt sich der WWF Deutschland ein.

 
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